Eröffnungsrede vom 11.12.2015

von Alexander Graeff

Der Dadaist und Sohn eines Pirmasenser Schuhfabrikanten Hugo Ball (1886–1927) fand 1926 in seinem berühmten Aufsatz Der Künstler und die Zeitkrankheit deutliche Worte:

»Fragt man die Künstler, woran sie leiden, so kann man immer wieder dasselbe hören. Sie haben keine Beziehung mehr zur Wirklichkeit.«[1]

Alexander Graeff eröffnet den Abend | Foto: Hans Praefke
Dieser Wirklichkeitsverlust war einem fünfzehn Jahre jüngeren Zeitgenossen Hugo Balls Anlass genug, einen ganz neuen Blick auf das Praxisfeld »Kunst« zu werfen und seine Bemühungen in einem einfachen Credo auf den Punkt zu bringen:

»Die wirkliche Kunst ist immer dort, wo man sie nicht erwartet! Wo niemand an sie denkt noch ihren Namen nennt.«[2]

Die Rede hier ist natürlich von keinem Geringeren als dem Begründer der Art Brut und Sohn eines Weingroßhändlers aus Le Havre Jean Dubuffet (1901–1985).

Die Art Brut oder sogenannte Outsider-Kunst bezeichnet nicht-etablierte Ausdrucksformen und Perspektiven, protegiert Kunstwerke, die, so Dubuffet 1948, »von Leuten […] außerhalb der herrschenden Ordnung«[3] geschaffen wurden. Ihm ging es vor allem um anti-akademische Kunstproduktionen, die sich einem stil- und gattungsspezifischen Schaffen entziehen; einem Schaffen, das entgegen dem professionellen Tun, gerade frei ist vom Einfluss eines »ganz besonderen Clans: des Clans der Berufsintellektuellen« und seinem »Trupp der berufsmäßige[n] Kulturschaffende[n]!«. Von denen weiß Dubuffet nämlich:

»Sie äffen einander herrlich nach, von Hauptstadt zu Hauptstadt, und sie praktizieren eine künstliche Kunst, eine Art Kunst-Esperanto, das überall unermüdlich kopiert wird.«[4]

  »Wir waschen einen Streuner« | Foto: Hans Praefke
Die Art Brut förderte vor dem Hintergrund dieser Auffassung insbesondere die Arbeiten von Kindern, sogenannten Geisteskranken, Autodidakten, Sonderlingen und Laien, denen allen eins zu eigen ist: sie kümmern sich nicht um künstlerische Anschlusskommunikation, also weder um die Tradition ihrer Disziplin noch um das entsprechende Kunst-Esperanto, das gerade en vogue ist.

Heute wird der Kunst von Personen, die jenseits des etablierten Kunstbetriebes arbeiten das Etikett eines Outsiders natürlich nicht mehr gerecht, denn längst herrscht Konsens darüber, dass ein nicht-akademischer Zugang keinesfalls die Möglichkeit eines genuin künstlerischen Ausdrucks versperrt. Dafür braucht man heute keine Manifeste mehr wie zu Zeiten des hier zitierten Sohnes eines Weingroßhändlers aus Le Havre.

Ganz im Gegenteil, der aktuelle Inklusionsgedanke argumentiert gerade für Positionen, die einen frischen Blick auf den Gegenstand »Kunst« werfen und die – im Gegensatz zur etablierten Kunst – dadurch auch oft freier sind von kunstexternen Zwecken.[5]

Bis dahin wäre also alles gut. — Ist es aber nicht!

Denn all das, was ich bisher gesagt habe, trifft lediglich auf die Bildende Kunst zu, und gehört heute zur anerkannten Praxis dieser. Der Literatur und dem Literaturbetrieb dagegen sind solche Ansätze weitestgehend unbekannt.[6]

Streuner Jimmy wird gewaschen… | Foto: Hans Praefke
Kommen wir zum Anlass dieses Abends: Die von Anke Enders und mir in diesem Jahr gegründete Edition Paradogs möchte in Analogie zur Bildenden Kunst ebenso auf einen clanfreien künstlerischen Zugang im Bereich der Literatur aufmerksam machen.

Paradogs sind die streunenden Hunde der Literatur!

Paradogs sind keine Outsider. Paradogs sind Autorinnen und Autoren aus literaturfremden Berufen, Feldern, Bereichen, die mit ihrer Arbeit neben dem gängigen literarischen Berufsbetrieb schaffen und so den Abnutzungserscheinungen intertextueller Prozesse – dem Literatur-Esperanto – entgehen.

Paradogs sind die streunenden Hunde der Literatur!

Streunende Hunde sind frei. Sie entziehen sich bewusst jeder Zugehörigkeit zu einem Rudel, einem Clan, einem Trupp. Sie sind so gesehen Außenseiter, Einzelkämpferinnen und gleichzeitig sind sie gerade die Akteure der sogenannten Wirklichkeit, jenem Teil künstlerischen Schaffens, unter dem – glauben wir dem Sohn eines Pirmasenser Schuhfabrikanten – ja die Berufskünstler und -intellektuellen seit 1926 leiden. Erst aus einer nebenseitigen Randposition heraus wird die Außenperspektive möglich: Die wachsamen Hundeaugen da draußen umgehen das Problem der Systemimmanenz.

Paradogs sind die streunenden Hunde der Literatur!

Die Edition Paradogs bietet literarischen Randpositionen eine Plattform. Denn Inklusion bedeutet auch, die Außenperspektive als gleichwertig zur Innenperspektive zu betrachten. Die Chance für das gesamte Praxisfeld »Literatur«, die aus diesen hündischen Positionen heraus erwächst, besteht vor allem darin, stilprägende gruppenspezifische Muster zu umgehen und eine Literatur zu schaffen, die jenseits festgefahrener Form, Gattung und Zeitgeist existiert. Die Edition Paradogs ist die Geburtshelferin einer solchen Literatur.

…und gefönt. | Foto: Hans Praefke
Die Edition lädt ein in eine Welt ohne künstliches Literatur-Esperanto, in der die Werke abseitiger Lyrik, Kurzprosa und Dramatik und die Mischformen dieser Gattungen einen mutigen, lebendigen und frischen Blick auf das werfen, was wir Literatur nennen.

So wie wir uns am possierlichen Herumtollen nicht domestizierter und nur bedingt domestizierbarer Streuner erfreuen, erfreuen wir uns auch an den unkonventionellen Formen und Themen der ab jetzt jährlich erscheinenden Bände der Edition Paradogs!

Die Betonung liegt auf der Freude, die allzu oft vergessen wird, die aber die Literatur immer noch bei Leserinnen und Lesern auszulösen imstande ist – neben ihrer kritischen, sprachspielerischen, utopischen, politischen, aufklärerischen, intellektuellen Aufgabe. Und, wer weiß? Vielleicht können wir irgendwann auch wieder ungeniert das Wort »Unterhaltung« in den Mund nehmen.

So, und jetzt waschen wir einen Streuner!


[1] Ball, Hugo: Der Künstler und die Zeitkrankheit (1926). In: ders.: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften. Herausgegeben von Hans Burkhard Schlichting. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988. S. 102-149. Hier: S. 108. 
[2] Dubuffet, Jean: Art Brut. Vorzüge gegenüber der kulturellen Kunst (1948). In: Wetterleuchten! Künstler-Manifeste des 20. Jahrhunderts. Hamburg: Ed. Nautilus, 2000. S. 62-65. Hier: S. 64.
[3] Dubuffet 1948, S. 62.
[4] Beide Zitate Dubuffet 1948, S. 63.
[5] Vgl. Rauterberg, Hanno: Die Kunst und das gute Leben. Über die Ethik der Ästhetik. Berlin: Suhrkamp, 2015.
[6] Der umstrittene Adolf Wölfli (1864–1930) ist sicher die große Ausnahme.