Eröffnungsrede vom 28.01.2017

von Alexander Graeff

»Die wirkliche Kunst ist immer dort, wo man sie nicht erwartet! Wo niemand an sie denkt noch ihren Namen nennt.«[1]

Das behauptete zumindest Jean Dubuffet (1901–1985) in einem seiner Texte über Outsider-Kunst. Outsider-Kunst bezeichnet nicht-etablierte Ausdrucksformen und Perspektiven von Personen, die, so Dubuffet weiter, »außerhalb der herrschenden Ordnung«[2] schaffen.

Die Paradogs Johannes Hertel (r.) und Alexander Graeff |
Foto: Diana Wucherer
Ihm ging es vor allem um anti-akademische Kunstproduktionen und Positionen, die sich einem professionalisierten Schaffen entziehen, und frei sind vom Einfluss der »berufsmäßige[n] Kulturschaffende[n]!«. Diese nämlich, schreibt er weiter, »äffen einander herrlich nach, von Hauptstadt zu Hauptstadt, und sie praktizieren eine künstliche Kunst, eine Art Kunst-Esperanto, das überall unermüdlich kopiert wird.«[3]

Outsider-Kunst förderte vor dem Hintergrund dieser Position insbesondere die Arbeiten von Kindern, damals sogenannten »Geisteskranken«, Autodidakten, Sonderlingen und Laien, denen allen eins zu eigen ist: sie kümmern sich nicht um künstlerische Anschlusskommunikation, also weder um die Tradition der Disziplin noch um das entsprechende Kunst-Esperanto, das gerade en vogue ist.

Kommen wir ins Jetzt und an einen Ort, wo man sie ja doch erwartet. Heute wird der Kunst von Personen, die jenseits des etablierten Kunstbetriebes arbeiten das Etikett eines Outsiders natürlich nicht mehr gerecht, denn längst herrscht Konsens darüber, dass ein nicht-akademischer Zugang keinesfalls die Möglichkeit eines genuin künstlerischen Ausdrucks versperrt.
Ganz im Gegenteil, der aktuelle Inklusionsgedanke argumentiert gerade für Positionen, die einen frischen Blick auf den Gegenstand »Kunst« werfen, und die – im Gegensatz zur etablierten Kunst – dadurch auch unabhängig sind von berufsbedingten Zwängen und Zwecken.

Biostatistiker Johannes Hertel über seine Literatur |
Foto: Diana Wucherer
Was in der Bildenden Kunst seit Dubuffet und anderen Akteuren zur anerkannten Praxis gehört, ist der Literatur und dem Literaturbetrieb bisher weitestgehend unbekannt.[4] Dem wollten wir begegnen und haben vor etwas mehr als einem Jahr die Edition Paradogs ins Leben gerufen. In Analogie zur Bildenden Kunst will die von Anke Enders und mir gegründete Edition ebenso auf einen clanfreien Zugang im Bereich der Literatur aufmerksam machen.

Wie machen wir das? In dem wir Paradogs veröffentlichen! Paradogs wie Johannes Hertel. Was sind Paradogs?

Paradogs sind die streunenden Hunde der Literatur!

Paradogs sind keine Outsider. Paradogs sind Autorinnen und Autoren aus literaturfremden Berufen, Branchen und Bereichen, die mit ihrer Arbeit neben dem gängigen literarischen Berufsbetrieb schaffen und so den Abnutzungserscheinungen intertextueller Prozesse – dem Literatur-Esperanto – entgehen.

Paradogs sind die streunenden Hunde der Literatur!

Streunende Hunde sind frei. Sie entziehen sich bewusst jeder Zugehörigkeit zu einem Rudel oder Clan. Sie sind Einzelkämpferinnen. Aus ihrer nebenseitigen Randposition heraus beobachten ihre wachsamen Hundeaugen die Wirklichkeit – und machen aus Dichtung gerade kein Dogma, denn – wie der Paradog, dessen Band wir Ihnen heute Abend präsentieren wollen, selbst schreibt: »Die Dichtung hört dann […] auf, Dichtung zu sein.«

Paradogs sind die streunenden Hunde der Literatur!

Bisherige Edition Paradogs Bände #1 und #2 |
Foto: Diana Wucherer
Die Edition Paradogs bietet literarischen Randpositionen eine Plattform. Denn Inklusion bedeutet auch, die Außenperspektive als gleichwertig zur Innenperspektive zu betrachten. Die Chance für das gesamte Praxisfeld »Literatur«, die aus dieser hündischen Position heraus erwächst, besteht vor allem darin, stilprägende gruppenspezifische Muster zu umgehen und eine Literatur zu schaffen, die jenseits festgefahrener Form, Gattung und Zeitgeist existiert. Die Edition Paradogs ist die Geburtshelferin einer solchen Literatur.

Wir laden Sie nun mit Johannes Hertels Band – der Zweite in der Edition – ein, in eine literarische Welt ohne künstliches Literatur-Esperanto einzutauchen. Hier begegnen Ihnen vielfältige Werke der Lyrik, Kurzprosa und Dramatik, die gerade in der Mischung dieser Gattungen einen mutigen und frischen Blick auf das werfen, was wir gemeinhin Literatur nennen.

So wie wir uns am possierlichen Herumtollen nur bedingt domestizierbarer Streuner erfreuen, erfreuen wir uns an den unkonventionellen Formen und Themen der jährlich erscheinenden Bände der Edition Paradogs! Freuen Sie sich mit uns!
Heute Abend präsentieren wir Ihnen also den zweiten Band der Edition, Johannes Hertel und seine lyrische Dramatik: »Du bist dieser Satz.«


[1] Dubuffet, Jean: Art Brut. Vorzüge gegenüber der kulturellen Kunst (1948). In: Wetterleuchten! Künstler-Manifeste des 20. Jahrhunderts. Hamburg: Ed. Nautilus, 2000. S. 62-65. Hier: S. 64.
[2] Dubuffet 1948, S. 62.
[3] Dubuffet 1948, S. 63.
[4] Der umstrittene Adolf Wölfli (1864–1930) ist sicher die große Ausnahme.